Johannes und die Synoptiker Protokoll der 8. Sitzung am 5. Dezember 2007 1. Befragung der Kommentare zur Abhängigkeit der Speiseerzählungen untereinander Bauer geht davon aus, dass Johannes sowohl das Markus-, das Matthäus- als auch das Lukasevangelium als direkte Vorlage hatte. 1 Auch Bernard hält die direkte Vorlage des Markusevangeliums, dessen Text von Johannes stark bearbeitet wurde, für das Wahrscheinlichste. 2 Keine direkte Vorlage nimmt Becker an, der aber vermutet, dass Markus die Vorlage für die Semeiaquelle war, die wiederum Johannes verarbeitet habe. 3 Wie sich Schnelle zu dieser Frage im Johanneskommen- 1 Walter Bauer: Das Johannesevangelium, HNT 6, Tübingen 3 1933, S. 92f. [Kurioserweise bietet das Bauersche Werk keine Einleitung (darin dem Bultmannschen Kommentar vergleichbar). Immerhin finden sich in einer Art Nachwort zusammenfassende Bemerkungen zu unserem Thema, aus denen hervorgeht, daß Bauer mit der Kenntnis aller drei synoptischen Evangelien bei Johannes rechnet, a. a. O., S. 246 248 P. P.]. 2 John H. A. Bernard: A critical and exegetical commentary on the gospel according to St. John, ICC, New York 1929, S. 94 98. 3 Jürgen Becker: Das Evangelium nach Johannes. Kapitel 11 21, ÖTK 4/2, Gütersloh/Würzburg 3 1991, S. 192. Nachtrag: Frau Hager präzisiert ihre Aussage zum Beckerschen Kommentar wie folgt: Becker rechnet mit zwei dem Evangelisten vorgegebenen Quellen, dem Passionsbericht und der Semeiaquelle. Außerdem noch mit verschiedenen mündlichen Einheiten, die in die Reden eingearbeitet wurden. Später wurde das Gesamtwerk noch einmal überarbeitet (vgl. Jürgen Becker, a. a. O., S. 39). Die Semeiaquelle hat eine Verwandtschaft zu Markus traditionsgeschichtlicher Art. Sie»zeigt nirgends ein direktes literarisches Abhängigkeitsverhältnis zu einem der Synoptiker«(a. a. O., S. 44).»Der joh[anneische] P[assions-]B[ericht] gehört in das Milieu einer vorlukanischen Passionstradition.«(Ebd.)»So ergibt sich als Gesamtthese: Der joh[anneische] Gemeindeverband besitzt offenkundig auf keiner theologiegeschichtlichen Stufe auch nur eines der synoptischen Evangelien. Das vierte Evangelium auf allen Ebenen ist nicht geschaffen, die Synoptiker zu ergänzen oder zu verdrängen. Seine Quellen und es selbst samt seiner Redaktion sind unabhängig von den ersten drei Evangelien konzipiert. Dabei zeigen jedoch die beiden Quellen traditionsgeschichtlich besondere Affinität, sei es zu Mk (SQ), sei es zu Lk (so der PB).«(A. a. O., S. 45.) Der Hagersche Nachtrag
2 Johannes und die Synoptiker tar äußert, konnte vorläufig nicht geklärt werden. In seiner Einleitung ins Neue Testament spricht er sich aber generell für eine Abhängigkeit des Johannes von den Synoptikern aus. Im Gegensatz dazu steht Bultmann, der annimmt, dass es eine schriftliche Vorlage gab, die sowohl Markus als auch Johannes unabhängig voneinander verwendeten. 4 Außen vor ist Theodor Zahn, da er voraussetzt, der Verfasser des Johannesevangeliums sei bei dem Geschehen selbst anwesend gewesen. 5 2. Referat von Juliane Lörzer über die Bedeutung der Wunder im Johannesevangelium 6 2. 1. Erste Beobachtungen und Erklärungen zu den johanneischen Wundern Vergleicht man die Wunder in den vier Evangelien miteinander, so fällt auf, dass Markus, Matthäus und Lukas zwischen 13 und 17 einander überwiegend ähnliche Erzählungen haben, während Johannes nur sieben schildert (Hochzeit zu Kana 2,1 12; Heilung des Sohnes eines königlichen Beamten 4,43 54; Heilung eines Kranken am Teich Bethesda 5,1 16; Speisung der Fünftausend 6,1 15; Jesus auf dem See 6,16 21; Heilung eines Blindgeborenen 9,1 7; Auferweckung des Lazarus 11,17 46). 4 [Dieser Bericht aus dem Bultmannschen Kommentar (Rudolf Bultmann: Das Evangelium nach Johannes, KEK II, Göttingen 19 1968) ist verkehrt, erstens insofern, als sich Bultmann auf der in Frage kommenden Seite 155 zur Schriftlichkeit gar nicht äußert; zweitens insofern, als er die Semeiaquelle als Vorlage des Evangelisten annimmt, die mit Markus ganz und gar nichts zu tun hat. Grundsätzlich gilt: Ob der Evangelist die synoptischen Evangelien gekannt hat, ist umstritten und zum mindesten sehr zweifelhaft. Hat er sie gekannt, so sind sie jedenfalls nicht eine Quelle für ihn in dem Sinne, wie das MkEv eine Quelle für das Mt- und LkEv gewesen ist, sondern dann wollte er sie interpretieren (nicht etwa ergänzen). (Rudolf Bultmann: Art. Johannesevangelium, RGG 3 III (1959), Sp. 840 850.) P. P.] 5 Theodor Zahn: Das Evangelium des Johannes KNT IV, Leipzig 1908. [Das schließt allerdings eine Kenntnis der Synoptiker keineswegs aus. Diese setzt Johannes vielmehr voraus; seine eigene Darstellung ist im Unterschied zu diesen natürlicher Ausdruck lebendiger Anschauung und genauer Kenntnis, die aber deswegen durchaus die synoptische als beim Leser bekannt voraussetzt. So kann er deren Darstellung abkürzen und korrigieren; jedenfalls bewegt er sich mit einer Sicherheit und Unabhängigkeit von den älteren Evv, welche ihre natürlichste Erklärung darin findet, daß hier ein Augenzeuge berichtet (Theodor Zahn, a. a. O., S. 321). Diese Thesen entwickelt Zahn aus der Interpretation unserer Speisungsgeschichte. Die Aussage oben im Text ist also zu präzisieren: Die Annahme, der Verfasser des Johannesevangeliums sei bei dem Geschehen selbst anwesend gewesen, schließt im Sinne Zahns die Frage nach seinem Verhältnis zu den Synoptikern keineswegs aus, da diese älter sind als sein Evangelium und sowohl ihm selbst als auch seinen Lesern bekannt. P. P.] 6 Wegen technischer Probleme kann die Powerpoint-Präsentation nicht gezeigt werden. Sie wird ins Internet gestellt.
Protokoll der 8. Sitzung am 5. Dezember 2007 3 Im Johannesevangelium selbst ist festgehalten, dass nicht alle Taten Jesu geschildert werden (Joh 20,31) und dass man auch auf Grund ihrer Fülle nicht alle wiedergeben kann (Joh 21,25). Es wird weiterhin vermutet, dass auch die untergeordnete Bedeutung der Wunder ausschlaggebend war (siehe 2. 3.) und genau sieben wegen des besonderen Bedeutungsgehalts dieser Zahl ausgewählt wurden. Bei Johannes finden sich im Gegensatz zu den Synoptikern keine Dämonenaustreibungen. Kollmann 7 erklärt, dass Dämonen als fremde Mächte verstanden wurden, die den Menschen beherrschen. Diese Vorstellung widerspreche aber der Anthropologie des Johannes. Theißen 8 verweist darauf, dass im Johannesevangelium nicht nur keine Dämonenaustreibungen geschildert werden, sondern alle mit Dämonen verbundenen Motive fehlen. Der Mensch steht nicht zwischen göttlicher und dämonischer Welt, sondern allein in Konfrontation mit der Offenbarung: Kosmos und Gott sind die entscheidenden Gegensätze. Nicht die Unterwelt, diese Welt selbst ist widergöttlich, sofern sie sich der Offenbarung verschließt. M. a. W. der Mensch in seiner Weltverfallenheit tritt an die Stelle der Dämonen. Im Johannesevangelium sind die wunderhaften Elemente auf ein Höchstmaß gesteigert (Heilung über die Distanz Kana Kapernaum, der Lahme ist seit 38 Jahren krank, die benötigte Brotmenge ist mehr als 200 Denare wert, der Blinde ist schon von Geburt an blind, Lazarus ist bereits 4 Tage tot). Dadurch wird die Macht Jesu herausgestellt. Er ist mit Gott so eng verbunden, dass er z. B. nicht nur punktuell, sondern auch über Distanz heilen kann. In den johanneischen Wundererzählungen ist immer Jesus der Initiator. Selbst wenn er gebeten wird zu heilen, entscheidet er souverän, wann er handelt (Joh 11,6: Als er nun hörte, dass er krank sei, blieb er noch zwei Tage an dem Ort, wo er war ). Er wird damit deutlich als Subjekt der Wunder betont. Daneben tritt auch wieder der Aspekt des Luxuscharakters der Wunder. 2. 2. Funktionen der Wunder im Johannesevangelium anhand der Auferweckung des Lazarus Gemeinsam werden die Verse Joh 11,3. 4. 6. 7. 17 27. 38 45 übersetzt und nach möglichen Funktionen befragt: 3 ἀπέστειλαν οὖν αἱ ἀδελφαὶ πρὸς 3 Da sandten die Schwestern zu ihm 7 Bernd Kollmann: Neutestamentliche Wundergeschichten. Biblisch-theologische Zugänge und Impulse für die Praxis, Stuttgart/Berlin/Köln 2002, S. 131. 8 Gerd Theißen: Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur formgeschichtlichen Erforschung der synoptischen Evangelien, StNT 8, Gütersloh 6 1990, S. 225.
4 Johannes und die Synoptiker αὐτὸν λέγουσαι κύριε, ἴδε ὃν φιλεῖς und ließen ihm sagen: Herr, siehe, der, ἀσθενεῖ. den du lieb hast, ist krank. 4 ἀκούσας δὲ ὁ Ιησοῦς εἶπεν αὕτη 4 Als aber Jesus es hörte, sprach er: Die- ἡ ἀσθένεια οὐκ ἔστιν πρὸς θάνατον se Krankheit ist nicht zum Tode, son- ἀλλ ὑπὲρ τῆς δόξης τοῦ θεοῦ, ἵνα dern um der Herrlichkeit Gottes willen, δοξασθῇ ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ δί αὐτῆς. auf dass der Sohn Gottes durch sie verherrlicht werde. Vers 4 nennt ausdrücklich die erste Funktion: Die Verherrlichung des Sohnes durch die Herrlichkeit Gottes. 6 ὡς οὖν ἤκουσεν ὅτι ἀσθενεῖ, τότε 6 Als er nun hörte, dass er krank sei, µὲν ἔµεινεν ἐν ᾧ ἦν τόπῳ δύο ἡµέ- blieb er noch zwei Tage an dem Orte, ρας wo er war. 7 ἔπειτα µετὰ τοῦτο λέγει τοῖς µα- 7 Danach spricht er dann zu den Jünθηταῖς ἄγωµεν εἰς τὴν Ιουδαίαν πά- gern: Lasst uns wieder nach Judäa geλιν. hen. Jesus entspricht der Bitte nicht direkt, sondern entscheidet den Zeitpunkt nach Judäa zu gehen selbst. Er ist damit trotz der Bitte ganz eindeutig der Initiator der Wunderhandlung. 17 ἐλθὼν οὖν ὁ Ιησοῦς εὗρεν αὐτὸν 17 Als nun Jesus kam, fand er ihn schon τέσσαρας ἤδη ἡµέρας ἔχοντα ἐν τῷ vier Tage in der Gruft liegen. µνηµείῳ. 18 ἦν δὲ ἡ Βηθανία ἐγγὺς τῶν Ιερο- 18 Bethanien aber war nahe bei Jeruσολύµων ὡς ἀπὸ σταδίων δεκαπέντε. salem, etwa fünfzehn Stadien weit. 19 πολλοὶ δὲ ἐκ τῶν Ιουδαίων ἐλη- 19 Und viele von den Juden waren zu λύθεισαν πρὸς τὴν Μάρθαν καὶ Μα- Martha und Maria gekommen, um sie ριὰµ ἵνα παραµυθήσωνται αὐτὰς πε- wegen ihres Bruders zu trösten. ρὶ τοῦ ἀδελφοῦ. 20 ἡ οὖν Μάρθα ὡς ἤκουσεν ὅτι Ι- 20 Martha nun, als sie hörte, dass Jeησοῦς ἔρχεται ὑπήντησεν αὐτῷ Μα- sus komme, ging ihm entgegen. Maria ριὰµ δὲ ἐν τῷ οἴκῳ ἐκαθέζετο. aber blieb im Haus. 21 εἶπεν οὖν ἡ Μάρθα πρὸς τὸν Ιη- 21 Da sprach Martha zu Jesus: Herr, σοῦν κύριε, εἰ ἦς ὧδε οὐκ ἂν ἀπέ- wenn du hier gewesen wärest, so wäre θανεν ὁ ἀδελφός µου mein Bruder nicht gestorben; 22 [ἀλλὰ] καὶ νῦν οἶδα ὅτι ὅσα ἂν 22 aber auch jetzt weiß ich, dass,
Protokoll der 8. Sitzung am 5. Dezember 2007 5 αἰτήσῃ τὸν θεὸν δώσει σοι ὁ θεός. worum du Gott bitten magst, wird Gott dir geben. 23 λέγει αὐτῇ ὁ Ιησοῦς ἀναστήσε- 23 Jesus spricht zu ihr: Dein Bruder ται ὁ ἀδελφός σου. wird auferstehen. 24 λέγει αὐτῷ ἡ Μάρθα οἶδα ὅτι 24 Martha spricht zu ihm: Ich weiß, ἀναστήσεται ἐν τῇ ἀναστάσει ἐν τῇ dass er auferstehen wird bei der Aufer- ἐσχάτῃ ἡµέρᾳ. stehung am letzten Tag. Das Gespräch in den Versen 21 24 ist ein Hinweis und eine Vergegenwärtigung der Passion. Auch in anderen Wundererzählungen finden sich teilweise wörtliche Anspielungen auf die Passion (z. B. Joh 2,4: Meine Stunde ist noch nicht gekommen ). Der Zusammenhang mit der Passion ist nicht ohne weiteres ersichtlich! P. P. 25 εἶπεν αὐτῇ ὁ Ιησοῦς ἐγώ εἰµι ἡ 25 Jesus sprach zu ihr: Ich bin die Auf- ἀνάστασις καὶ ἡ ζωή ὁ πιστεύων εἰς erstehung und das Leben; wer an mich ἐµὲ κἂν ἀποθάνῃ ζήσεται. glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt. Im Kurs wird eine Anspielung auf die Offenbarung in Ex 3,14 vermutet. Es handelt sich um ein für Johannes typisches Ich-bin-Wort Jesu. Das Wunder hat hier also eine christologische Funktion. 26 καὶ πᾶς ὁ ζῶν καὶ πιστεύων εἰς 26 Und jeder, der da lebt und an mich ἐµὲ οὐ µὴ ἀποθάνῃ εἰς τὸν αἰῶνα πι- glaubt, wird nicht sterben in Ewigkeit. στεύεις τοῦτο; Glaubst du das? 27 λέγει αὐτῷ ναί, κύριε ἐγὼ πε- 27 Sie spricht zu ihm: Ja, Herr, ich glauπίστευκα ὅτι σὺ εἶ ὁ Χριστὸς ὁ υἱὸς be, dass du der Christus bist, der Sohn τοῦ θεοῦ ὁ εἰς τὸν κόσµον ἐρχόµενος. Gottes, der in die Welt kommt. Im Vers 27 ist deutlich, dass die Wunderzählung eine Zeugnisfunktion hat. 38 Ιησοῦς οὖν πάλιν ἐµβριµώµενος 38 Jesus nun ergrimmte wieder in sich ἐν ἑαυτῷ ἔρχεται εἰς τὸ µνηµεῖον ἦν selbst und ging zum Grab. Es war aber δὲ σπήλαιον, καὶ λίθος ἐπέκειτο ἐπ eine Grabhöhle, und ein Stein lag davor. αὐτῷ. 39 λέγει ὁ Ιησοῦς ἄρατε τὸν λίθον. 39 Jesus spricht: Nehmt den Stein weg! λέγει αὐτῷ ἡ ἀδελφὴ τοῦ τετελευτη- Die Schwester des Verstorbenen, Marκότος Μάρθα κύριε, ἤδη ὄζει, τεταρ- tha, spricht zu ihm: Herr, er riecht ταῖος γάρ ἐστιν. schon, denn er ist vier Tage tot.
6 Johannes und die Synoptiker 40 λέγει αὐτῇ ὁ Ιησοῦς οὐκ εἶπόν 40 Jesus spricht zu ihr: Habe ich dir σοι ὅτι ἐὰν πιστεύσῃς ὄψῃ τὴν δόξαν nicht gesagt, wenn du glaubtest, so würτοῦ θεοῦ; dest du die Herrlichkeit Gottes sehen? Hier wird noch einmal die Herrlichkeit Gottes betont, die Jesus verherrlicht. 41 ἦραν οὖν τὸν λίθον. ὁ δὲ Ιησοῦς 41 Sie nahmen nun den Stein weg. ἦρεν τοὺς ὀφθαλµοὺς ἄνω καὶ εἶπεν Jesus aber hob die Augen empor und πάτερ, εὐχαριστῶ σοι ὅτι ἤκουσάς sprach: Vater, ich danke dir, dass du µου. mich erhört hast. 42 ἐγὼ δὲ ᾔδειν ὅτι πάντοτέ µου ἀ- 42 Ich aber wusste, dass du mich überκούεις ἀλλὰ διὰ τὸν ὄχλον τὸν πε- all hörst; doch um der Volksmenge wilριεστῶτα εἶπον ἵνα πιστεύσωσιν ὅτι len, die umhersteht, habe ich es gesagt, σύ µε ἀπέστειλας. damit sie glauben, dass du mich gesandt hast. Hier wird deutlich die enge Vater-Sohn-Beziehung herausgestellt. Das Wunder erbringt somit einen Gesandtschaftserweis. In Vers 42 wird als Zielfunktion damit sie glauben angegeben. Das Wunder hat einen missionarischen Zweck. 43 καὶ ταῦτα εἰπὼν φωνῇ µεγάλῃ ἐ- 43 Und als er dies gesagt hatte, rief er κραύγασεν Λάζαρε, δεῦρο ἔξω. mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus! Die letzten beiden Verse zeigen deutlich, dass es hier nicht um das Wunder selbst geht, sondern um Jesus als das Subjekt des Wunders. Das Wunder ist gewissermaßen eine Show, die zur Darstellung Jesu veranstaltet wird. 44 ἐξῆλθεν ὁ τεθνηκὼς δεδεµένος 44 Und der Verstorbene kam heraus, an τοὺς πόδας καὶ τὰς χεῖρας κειρίαις, Füßen und Händen mit Grabtüchern καὶ ἡ ὄψις αὐτοῦ σουδαρίῳ περιεδέ- umwickelt, und sein Gesicht war mit eiδετο. λέγει αὐτοῖς ὁ Ιησοῦς λύσατε nem Tuch umbunden. Jesus spricht zu αὐτὸν καὶ ἄφετε αὐτὸν ὑπάγειν. ihnen: Löst ihn und lasst ihn weg gehen. 45 πολλοὶ οὖν ἐκ τῶν Ιουδαίων, οἱ 45 Viele nun von den Juden, die zu Ma- ἐλθόντες πρὸς τὴν Μαριὰµ καὶ θεα- ria gekommen waren und sahen, was er σάµενοι ἃ ἐποίησεν, ἐπίστευσαν εἰς getan hatte, fingen an, an ihn zu glauαὐτόν ben. Auch hier wird noch einmal der missionarische Aspekt hervorgehoben. Es ist zu beachten, dass πιστεύω im Aorist steht, also ingressiv zu übersetzten ist. Gleiches
Protokoll der 8. Sitzung am 5. Dezember 2007 7 gilt für den bereits erwähnten Vers Joh 20,31 ( Diese aber sind geschrieben, damit ihr anfangt zu glauben... ), die missionarische Intention des gesamten Evangeliums findet sich also auch in den Wundern wieder. Die Wundererzählungen haben vielfältige Funktionen. Die wichtigsten sind: Die Verherrlichung Jesu. Ergebnis Die Darstellung der engen Beziehung zwischen Gott und Jesu. Das Bewirken von Glauben. Christologische Bezeugungen. 2. 3. Wunderkritik bei Johannes Es ist zu beobachten, dass vier der sieben Wunder (Heilung am Teich Bethesda, Speisung der Fünftausend, Heilung des Blindgeborenen, Erweckung des Lazarus) mit einer Offenbarungsrede verknüpft sind. Bei der Lazaruserzählung ist sie gleichsam in dialogischer Form gestaltet. Das Wunder zu Kana hat keine solche Rede, aber die Tat selbst hat Offenbarungscharakter. Es wird deutlich, dass die Glauben stiftende Wirkung der Wunder nicht ausreicht. Joh 4,48 sagt es explizit: Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, so werdet ihr nicht glauben. Es ist das Wort nötig. Wir übersetzten Joh 2,24: 24 αὐτὸς δὲ Ιησοῦς οὐκ ἐπίστευεν 24 Jesus selbst aber vertraute sich ihnen αὑτὸν αὐτοῖς διὰ τὸ αὐτὸν γινώσκειν nicht an, weil er alle kannte. πάντας. Auch hier wird deutlich, dass Wunder beim Menschen wenig bewirken. Die Referentin verweist auf Joh 3,1 13. Im Gespräch mit Nikodemus wird deutlich, dass eine Neugeburt aus dem Geist nötig ist, um Jesus Christus zu erkennen, Zeichen dies aber nicht bewirken können. Wir übersetzten Joh 20,29: 29 λέγει αὐτῷ ὁ Ιησοῦς ὅτι ἑώρα- 29 Jesus spricht zu ihm: Weil du mich κάς µε πεπίστευκας; µακάριοι οἱ µὴ gesehen hast, hast du geglaubt. Glück- ἰδόντες καὶ πιστεύσαντες. selig sind, die nicht sehen und doch glauben! Zwar besitzen die Wunder sowohl Zeugnis- als auch Missionsfunktion, aber der durch das Wort gestiftete Glaube ist wichtiger. Deshalb werden die Wunder immer
8 Johannes und die Synoptiker wieder kritisiert und mit Offenbarungsreden verknüpft. Da der geringere Glaube aber besser als gar kein Glaube ist, gibt es dennoch Wundertaten Jesu. Es sind zwei Medien, die Glauben vermitteln. Die Wundertat macht das Gesprochene zum Realakt. 2. 4. Die Wundererzählungen des Johannes im Vergleich mit den Synoptikern 2. 4. 1. Die Dämonenaustreibungen in den synopischen Evangelien Mit Mt 4,23 und Mk 1,39 werden zwei ähnliche Stellen miteinander verglichen. Während Markus von Dämonen spricht, redet Matthäus von Krankheit. Generell lässt sich feststellen, dass für Markus die Dämonenaustreibung sehr wichtig ist, während Matthäus sie stark zurücknimmt. Wir übersetzten Mk 3,11: 11 καὶ τὰ πνεύµατα τὰ ἀκάθαρτα, 11 Und wenn die unreinen Geister ihn ὅταν αὐτὸν ἐθεώρουν, προσέπιπτον sahen, fielen sie vor ihm nieder und αὐτῷ καὶ ἔκραζον λέγοντες ὅτι σὺ εἶ schrien und sprachen: Du bist der Sohn ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ. Gottes. Die Dämonenaustreibung dient der Manifestation der Gottessohnschaft. Auch Lukas nimmt das magische Element zurück, allerdings weniger stark als Matthäus. Im Johannesevangelium finden sich hingegen gar keine Dämonenerzählungen. Es lässt sich also festhalten, dass bei Markus großer Wert auf die Dämonenaustreibung gelegt wurde, während Lukas und Matthäus noch stärker dieses Element zurücknehmen, bei Johannes sind sie gar nicht mehr vorhanden. Herr Pilhofer weist darauf hin, dass der Dämonenglaube nicht typisch jüdisch ist, sondern generell in die Antike gehört. Unter der heute kaum noch vertretenen These, dass das Johannesevangelium gnostisch beeinflusst sei, ließen sich die fehlenden Dämonenaustreibungen durch die gewandelte Bedeutung von Dämonen erklären. Die These, dass der Dämonenglaube fehle, weil Johannes für eine aufgeklärte Stadtgemeinde schreibt, widerlegt Herr Pilhofer durch Apg 19,19 ( Viele aber von denen, die vorwitzige Künste getrieben hatten, trugen die Bücher zusammen und verbrannten sie vor allen; und sie berechneten ihren Wert und kamen auf fünfzigtausend Silberdrachmen. ). Offensichtlich gab es auch in der großen Stadt Ephesus eine beachtliche Menge Zauberer. Allerdings haben sich die in den Städten lebenden christlichen Gemeinden von solchem Glauben distanziert. Deshalb berichtet Johannes auch nicht darüber. Bei Markus ist der Dämonenglaube hingegen selbstverständlich. Dämonenaustreibungen gab es auch noch im zweiten Jahrhundert.
Protokoll der 8. Sitzung am 5. Dezember 2007 9 2. 4. 2. Das Verhältnis von Wort und Wunder in den Evangelien Matthäus hat eine gegenüber den anderen synoptischen Evangelien deutlich reduzierte Bedeutung der Wunder. Das Wort ist wesentlich gewichtiger als die Taten Jesu. Markus berichtet von vielen Wundern, denen hohes Gewicht zukommt. Dennoch sind die Wunder immer bekräftigende Beweismittel für die Worte Jesu (vgl. Mk 1,21 28). Bei Lukas fehlen in der lukanischen Lücke einige der synoptischen Wunder. Dafür hat er im Sondergut einige eigene Wunder. Sie sind theologisch sehr wichtig. Wunder und Worte sind gleichwertig, vielleicht können den Wundern sogar noch größere Bedeutung zugesprochen werden. Auch in der Apostelgeschichte findet sich eine Vielzahl durch Paulus und Petrus bewirkte Wunder. Bei Johannes sind die Wunder den Worten explizit untergeordnet. 2. 4. 3 Die Bedeutung der Wunder in den Evangelien Matthäus: Die Wunder haben ekklesiologische Funktion. Das Motiv der Nachfolge ist betont (Mt 8,23). Markus: Auch die Wunder dienen der Manifestion der Gottessohnschaft. Aufgrund des Messiasgeheimnisses kann dies teilweise erst nach Tod und Auferstehung Bedeutung erlangen. Lukas: Durch die Wunder wird die Göttlichkeit Jesu bewiesen. Er erhält seine göttliche Legitimation durch die Zeichen und Wunder. Johannes: Die Wunder dienen der Mission und Bezeugung. 2. 5. Ist Johannes literarisch von den Synoptikern in den Wundererzählungen abhängig? Die Reduktion der Dämonenerzählungen von Markus über Matthäus bis hin zu ihrem völligen Fehlen bei Johannes muss mit einer möglichen literarischen Abhängigkeit in keinem Zusammenhang stehen. Auch aus den unterschiedlichen Funktionen der Wunder lässt sich nichts bezüglich der literarischen Abhängigkeit ableiten, da diese immer von der jeweiligen Person des Evangelisten abhängig sind. Auffällig ist lediglich, dass die Speisungserzählung und der Seewandel
10 Johannes und die Synoptiker jeweils miteinander verbunden sind. Der Vergleich der Wundererzählungen lässt keine eindeutigen Schlüsse über die literarische Abhängigkeit zu. 3. Hausaufgabe für die 9. Sitzung am 12. Dezember 2007 Für die nächste Sitzung ist die Perikope Joh 5,1 18 zu übersetzten. Mk 2,1 12 soll dazu verglichen werden. Außerdem sind die Stellen, an denen die Synoptiker sich mit der Sabbatproblematik auseinandersetzen, herauszusuchen. Anna Verweyen